Nebst seinen Monographien über Origenes und Maximus Confessor hat sich Balthasar auch dem kappadokischen Kirchenvater Gregor von Nyssa gewidmet. Nach der Renaissance des thomistischen Denkens gegen Ende des 19. Jahrhunderts widmeten sich zahlreiche Theologen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts den Kirchenvätern (insbesondere den griechischen), um zu den Quellen des Glaubens aufzubrechen.

In der Zeit seiner Ordensausbildung in Lyon/Fourvière (1934-37) beschäftigte sich auch Hans Urs von Balthasar gemeinsam etwa mit Jean Daniélou und Jean Varillon eingehend mit der Theologie der Väter. Mentor dieser Arbeit war Henri de Lubac. Der Beweggrund dieser Wiederentdeckung waren nicht so sehr die Probleme und die Situation der Kirche ihrer Zeit, sondern die Bereicherung und Erneuerung der Kirche aus ihren ursprünglichen, zeitlosen Quellen.

Balthasar zeigt in diesem knappen Werk, das er auf Französisch verfasst hat, wie Gregor von Nyssa den philosophischen Gedanken unserer Zeit vorwegnimmt, der – mit Heidegger – das Eigentliche des Seins jenseits der Wesenheiten, der Seienden erkennt: im Begriff «Gegenwart» (oder «Anwesenheit»). In Gregors Werk verhält sich die «Gegenwart» des endlichen Wesens, seine Anwesenheit, immer schon zur «Gegenwart und Anwesenheit» des unendlichen Wesens. Die Philosophie von Gregor von Nyssa kann daher als «religiöse Philosophie» bezeichnet werden. Da der griechische Vater sein Denken nirgendwo zur systematischen Darstellung brachte, durchkämmte Balthasar all seine Traktate und Predigten, um die verstreuten Elemente für den heutigen Leser zu sammeln und sie gleichsam in einem kreisförmigen Weg anzuordnen, der in einem Dreischritt mit Gregors «Philosophie des Werdens und Verlangens» beginnt und über eine «Philosophie des Bildes» zur «Philosophie der Liebe» führt.