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Der «Kleine Weg»
Zum hundertsten Geburtstag der Therese von Lisieux am 2. Januar 1973
Wir haben in neuerer Zeit nicht so viele große Heilige, dass wir es uns leisten könnten, ohne sie auszukommen. Man wird vielleicht einwenden, die Bezeichnung «große Heilige» passe gerade nicht auf die «Kleine» Therese mit ihrer Lehre vom «Kleinen Weg», der von ihr ausdrücklich und sorgfältig als ein Weg für alle Christen, gerade auch für die «kleinen Seelen» beschrieben worden ist. Nun, wir wollen nicht davon reden, dass Therese sehr wohl ahnte, eine «große Heilige» zu sein, nämlich eine solche, der eine bedeutsame Sendung in der Kirche zufiel, es genüge, darauf zu verweisen, dass die Glut ihrer Verehrung über die ganze Welt hin doch ganz offensichtlich vom Windbraus des Heiligen Geistes angefacht worden ist, und dass man den Ausdruck «große Heilige» am besten auf solche anwendet, die vom Geist selber (und nicht vor allem durch menschliche Interessen) zur Heiligsprechung portiert werden, wie zum Beispiel auch der Pfarrer von Ars oder Don Bosco.
Aber schon formt sich ein neuer Einwand: Hat diese kleine Therese nicht ihre Stunde gehabt im ausgehenden 19. Jahrhundert und beginnenden 20. Jahrhundert? Steht und fällt sie nicht mit einem beruhigten, vielleicht sogar recht muffigen bourgeoisen Katholizismus, von dem das ganze Milieu ihrer Familie (vergleiche die Briefe, von denen jüngst noch mehr veröffentlicht worden sind!) und auch das höchst unbedeutende Kloster, in dem sie ihre wenigen Lebensjahre verbringen musste, lebhaftes Zeugnis ablegen? Können wir den beblümten Pensionatsstil noch ertragen, in dem sie ihre Lebenserinnerungen geschrieben hat, ganz zu schweigen von den süßlichen Gedichten, die in der Ursprache heute unlesbar geworden sind? Und fordert diese Schicht von beruhigter Bürgerlichkeit nicht geradezu den Spachtel des Psychoanalytikers heraus, der die allzuglatte Fassade dieser Heiligkeit abkratzt und dahinter – man denke nur an Thereses rätselhafte Jugendkrankheit! – ein ganzes Knäuel von Komplexen bloßlegt? Ida Friederike Görres hat mit dieser Arbeit begonnen, und Francois Six führt sie heute weit hemmungsloser fort. Jemand hat unverfroren gesagt, mit dem Theresien-Boom sei es für immer vorbei.
Nun, «große Heilige» sind nicht auf Reklame angewiesen, höchstens auf die Liebe der Gläubigen; und diese Liebe entsteht dort, wo ein Sinn vorhanden ist für die Besonderheit ihrer Sendung und die Trefflichkeit von deren Ausführung.
Wer sich die Mühe nimmt, Theresas authentische Schriften – die drei Teile ihrer Autobiographie, ihre Briefe und Gedichte, die «Letzten Worte» in kritischer Auswahl und mit Vorsicht – unbefangen zu lesen, wird erstaunt sein über die ihm unmittelbar entgegenkommende Frische, Echtheit, das unbezwingbare Temperament, den Willen zu überzeugen, mitzureißen, die Unduldsamkeit gegen alles Laue, alle Resignation, alle falsche Demut, selbst wenn Therese solche Züge bei ihren Priesterfreunden feststellen muss.
Nicht umsonst war Jeanne d’Arc ihre Lieblingsheilige, mit der sie im Geist wetteifert, deren Sendung sie mit der ihren vergleicht, deren Rolle sie in einem Theaterstück mit Begeisterung spielt, wie die erhaltenen Fotos bezeugen.
Bevor wir zum eigentlich Religiösen und Christlichen übergehen: mir ist in neuerer Zeit kein heiliggesprochener Christ bekannt, der ein solches dichterisches Vermögen gehabt hätte wie Therese von Lisieux. Die Bilder sprudeln unter ihrer Feder nur so hervor, immer originell, immer ins Schwarze treffend. Sie illustriert damit ihre Lehre vom kleinen Weg, die dadurch noch farbiger, verständlicher, anziehender wird. Gewiss muss man von zeitgebundenen Wendungen absehen können, aber das wird einem leicht gemacht durch die (zumal in den Briefen) quellende Fülle an Einfällen. Natürlich ist die «Große Therese» die größere Dichterin, aber sie dichtet als reife, erfahrene Frau, wie ihr ganzes Wirken als Gründerin vieler Klöster irdisch gesprochen weiträumiger war als das des Mädchens, das kaum fünfundzwanzigjährig an Schwindsucht starb. Und doch hat dieses Mädchen, bei aller Verehrung für die «Große», sich nicht gescheut, den Weg auf dem Karmelberg anders zu legen und dabei lächelnd, oft ein ganz klein wenig maliziös, die beiden Riesen der Karmelreform – Theresia und Johannes vom Kreuz – ein bisschen zu korrigieren. Es sind zwei «Adler», die sich in mystischem Flug über die Wolken des alltäglichen Lebens aufgeschwungen haben und vielleicht Seelen, die zu solchen Flügen gar nicht berufen sind, durch die Beschreibung ihrer Erlebnisse zu falschen Sehnsüchten, gar zu einem heillosen Trainieren auf Mystik hin verführen könnten. Die kleine Therese weiß, dass die Vollkommenheit, die das Evangelium meint, allen zugänglich ist, auch wenn das Streben nach ihr immer den ganzen Einsatz der Person verlangt.
Damit sind wir an den Punkt gelangt, wo die Besonderheit des theresianischen «Kleinen Weges» wenigstens summarisch gekennzeichnet werden muss. Drei Aspekte ihrer «Lehre» sollen hervorgehoben werden.
Ewigkeit im Je-Jetzt
Der «Kleine Weg» nennt sich so, weil er immer nur den nächsten, gerade jetzt fälligen Schritt zu bedenken vorschreibt. Keine hochfliegenden Pläne für morgen, sondern das bisschen, was heute, in dieser Stunde und Minute verlangt wird.
Vielleicht einen unangenehmen Menschen ertragen. Vielleicht in Geduld bei einer Arbeit ausharren, ohne sie abzukürzen. Vielleicht ein Gebet zu Ende führen, bei dem anscheinend nichts Rechtes herausschaut. Nur das Heute zählt, auch wenn der Geist noch so sehr sich ins Morgen hineinträumen möchte. Gewiss, dieses Heute ist flüchtig; Therese fühlt das durchdringend und sehnt sich nach der Ewigkeit bei Gott. Aber jetzt ist Gott nirgendwo anders fassbar als eben im Jetzt. Die Ewigkeit, die uns in der Zukunft zu liegen scheint, ist in Wahrheit die verborgene Tiefe des gegenwärtigen Augenblicks. Wenn ich diesen Augenblick mit christlicher Liebe fülle, soweit ich’s vermag, bis zum Rand, so bin ich in Fühlung mit der ewigen göttlichen Liebe, die mich von Augenblick zu Augenblick begleitet. Es ist völlig gleichgültig, ob das, was ich gerade zu tun habe, wichtig oder unwichtig erscheint; interessant ist nur, wie ich es tue. Hier wird Thereses Name und Devise bedeutsam: sie nennt sich Therese vom Kinde Jesu und vom Heiligen Antlitz: beides ist in ihrem Wesen untrennbar verbunden. Das Kind ist – wie dem Herrn im Evangelium – Leitbild, weil seine Augenblicke konkret gefüllt sind, weil es dem Jetzt traut, auf die Liebe setzt, nicht in abstrakte Theorien ausweicht, nicht für den morgigen Tag sorgt, nicht hortet und speichert. Aber wie im Evangelium ist das Leitbild vom Kind ungetrennt vom Leitbild der Passion: so im Augenblick verharren müssen, daran festgenagelt sein, kann selbst schon Passion sein und wird es erst recht, wenn Gott den Augenblick des Glaubenden mit Spuren des erlösenden Leidens füllt. Thereses innere Landschaft wird im Lauf der Jahre immer verhangener, düsterer, bis zu Erfahrungen der vollkommenen Dürre, der Verlassenheit, ja der Anfechtungen gegen den Glauben, die sie mit den Ungläubigen zusammen, und um mit ihnen solidarisch zu sein, erfahren darf. Und dies jeweils in einem Gefühl der Schwäche. Ein Kind ist nicht stark. Es vertraut darauf, dass es hindurchgetragen wird. Auch der Leidende am Ölberg ist nicht stark; wenn er «Dein Wille geschehe» sagt, so im Vertrauen, dass der Wille des Vaters ihn durch das hindurchführen wird, was menschlich untragbar erscheinen muss.
Liebe als Einheit von Gottes- und Nächstenliebe
Auf dem «Kleinen Weg» gibt es keinerlei Trennung oder Entgegensetzung zwischen Gottesliebe und Nächstenliebe. Therese wäre eine solche Unterscheidung überhaupt nie eingefallen; beides ist für sie von der frühesten Jugend an die heile christliche Lebenseinheit.
Es ist für sie vollkommen selbstverständlich, dass sie Gott deshalb liebt, weil er die Liebe ist, die Liebe zu allen Menschen, zu allen Sündern, weil er – wie sie mehrfach sagt – in dieser Menschenliebe bis zum Wahnsinn gegangen ist. Für sie ist Gott und das ewige Leben im Abgrund der Liebe Gottes der ganze Sinn der Schöpfung, deshalb will sie möglichst alle Menschen zu diesem Gott hinführen, gerade weil sie die Menschen liebt. Sie lebt in Jesus Christus, der für sie untrennbar die Hingabe Gottes an die Menschheit wie der Mittelpunkt der Hingabe der Menschen an Gott ist. In ihrer Liebe zu diesem glühenden Zentrum der Liebe zwischen Gott und Mensch entdeckt Therese ihren eigenen theologischen Standort: in dem berühmten Schluss des zweiten Manuskripts möchte sie zunächst alle Sondercharismen in der Kirche umfangen, um von allen aus Gott und die Welt zu lieben. Dann entdeckt sie aber – im Übergang vom 12. zum 13. Kapitel des ersten Korintherbriefs –, dass die Liebe (untrennbar die Gottes- und Nächstenliebe) alle Charismen zugleich in sich fasst und übersteigt: «Ich begriff, dass die Kirche ein Herz hat und dass dieses Herz von Liebe brennt… dass die Liebe alle Berufungen in sich schließt… Endlich habe ich meine Berufung gefunden: es ist die Liebe!» Das klingt überschwenglich, aber Therese setzt den großen Gedanken in kleine alltägliche Münze um: im je-jetzigen Augenblick verteilt sie Liebe an Gott und an die ihr begegnenden Menschen; eine Schwester, die ihr innerlich unsympathisch war, sagt mit Erstaunen: «Ich weiß gar nicht, weshalb mir Therese vom Kinde Jesu so besonders zugetan ist…» Als Karmelitin versteht Therese, dass sie ihre Liebe nicht durch äußere kirchliche Werke kundtun kann: ihr «Werk» ist die totale Lebenshingabe, das «Ganzbrandopfer», von dem sie weiß, dass es das wirksamste, das alles befruchtende Tun der Kirche ist; sie vergleicht sich mit dem kleinen Schwungrad, das alle großen Räder des kirchlichen Apostolats in Bewegung setzt. Und die Kirche hat diese Einsicht Thereses ihrerseits anerkannt, indem sie sie zur Patronin aller Missionen erkor. Ihr Wirken versteht sie als Produkt einer vollkommenen Selbstlosigkeit: sie will keine «guten Werke» tun und keine «Verdienste sammeln», sondern alles vorweg zugunsten der Welt und zuhanden der Kirche verstrahlen. Und sie versteht dieses Tun sosehr als die endgültige Haltung der christlichen Liebe, dass sie auch im Himmel nichts anderes sein will als die für Gott «entblätterte Rose», deren Blütenblätter auf die Erde hinunter verweht werden.
Theologie der Hoffnung
Diese größtmögliche Öffnung im Herzen der Kirche lässt schon das dritte Element ahnen, das die Theologie der Heiligen kennzeichnet: sie ist eine Theologie der Hoffnung. Indem sie von der totalen Liebe kühn, fast verwegen weiterschreitet zu einer totalen Hoffnung, wagt sie einen Schritt in Neuland, wenigstens was die Theologie der letzten Jahrhunderte angeht.
Sie sagt ohne Umschweife: «Man erwartet nie zuviel von Gott; man bekommt von ihm soviel, als man erhofft.» Und deshalb: «Man verlangt von ihm genau soviel, als man ihm zutraut.» Es gibt aber nichts, was Therese der Liebe Gottes nicht zutrauen würde. Für sie sind der Glaube (der alles, was Gott sagt, glaubt), die Liebe (die seine grenzenlose Hingabe grenzenlos zu beantworten sucht) und die Hoffnung (die alles von der Liebe Gottes erhofft) koextensiv. Sie nimmt für sich eine «blinde Hoffnung» in Anspruch, sie nimmt auch die paulinische «Hoffnung gegen alle Hoffnung» in Beschlag. Und da der Sohn Gottes im Auftrag des Vaters für alle Sünder gestorben ist und weil Therese selber ihren Auftrag dahin versteht, in der Nachfolge Jesu sich für alle Sünder anzubieten und hinzugeben, sieht sie nicht ein, weshalb sie nur partiell und nicht total erhört werden sollte. Diese Kühnheiten haben bei Therese nichts von einem trockenen Bescheidwissen über Gott, von einer lauen Meinung, es werde «schon alles ein gutes Ende nehmen»: das Gegenteil ist der Fall: es ist ein glühendes, wenn auch immer ehrfürchtiges Sich-Gott-ans-Herz-Werfen, es ist zugleich ein hellhöriges Hinhorchen auf den Grundklang der Bibel, ein Verständnis dafür (ohne jede Hebräisch-Kenntnis), dass Gottes Gerechtigkeit völlig eins ist mit seiner Liebe.
Man muss ein paar oberflächliche Hüllen durchstoßen, und man sieht mit Erstaunen: Therese hat Antworten, ja weitgehend die Antworten auf Fragen und Probleme unserer Kirchenzeit. Der Aufbruch, den sie bedeutet hat, liegt keineswegs abgetan hinter uns.
Sie hat zunächst die rechte Antwort auf die Parole der Orthopraxis: ihr kleiner Weg ist nichts anderes. Aber er lebt eben, wie es christlich nicht anders sein kann, restlos aus dem liebenden Glauben.
Sie hat die rechte Antwort auf das falsch gestellte Problem zwischen Gottes- und Nächstenliebe, denn sie zeigt uns, dass beide in Wahrheit eins sind und beide Seiten jeweils unweigerlich aufeinander verweisen.
Sie hat die rechte Antwort auf eine einseitige und überhitzte Theologie der Hoffnung, indem sie deren wahren Gegenstand aufzeigt und sich mit einem restlosen existentiellen Einsatz dafür opfert.
Therese ist in ihrem Leben und Denken viel reicher, als diese paar Striche es umreißen konnten. Nimmt man ihr gesamtes Werk ernst, so ist man über die Fülle und Kraft des in wenigen Jahren Erreichten verblüfft. (Ich habe diesen Reichtum auszubreiten versucht in «Schwestern im Geist. Therese von Lisieux und Elisabeth von Dijon, 1970»). Sie ist mittelalterlich gesprochen, ebensosehr Lebe- wie Lese-Meisterin. Sie hat selbst Novizen erzogen und ihnen dauernd Kluges, oft beinahe Altkluges gesagt und gezeigt. Sie würde sich nicht zieren, wenn wir sie bäten, uns in ihre Schule zu nehmen.
Hans Urs von Balthasar
Originaltitel
Ein Herz, das aus Liebe brennt
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Saint John PublicationsJahr:
2022Typ:
Artikel