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Persönliche Beichte überholt?
Eine unzeitgemäße Betrachtung
Es gibt keine Kollektivschuld: Man kann mir zwar klarmachen, dass der westliche Kapitalismus schuld daran ist, dass in brasilianischen Plantagen und peruanischen Bergwerken die Einheimischen unterbezahlt sind; aber wenn ich, nachdem ich das erfahren habe, tue, was ich persönlich in meinen Verhältnissen tun kann, um dieser Ungerechtigkeit abzuhelfen (und es gibt einiges, was ich wirklich tun kann), dann ist es sinnlos, mich der Sünde anzuklagen, dass ich als Kapitalist schuldig sei an den untermenschlichen Lebensbedingungen Lateinamerikas. Ich könnte mich dadurch verfehlen, dass ich geflissentlich jeder Aufklärung über Zusammenhänge der Weltwirtschaft aus dem Wege ginge, unter dem Vorwand, dass ich doch nichts daran ändern kann; irgendeine Form der Hilfe ist, in bescheidenem Rahmen, jedem möglich. Ich brauche gar nicht so weit zu schweifen; es gibt meinen engeren und weiteren Bekanntenkreis, den ich durch die Art meines Betragens und mein Sosein wesentlich beeinflussen kann und für den ich menschlich verantwortlich bin. Christlich noch mehr als menschlich; denn im Allgemeinmenschlichen gelten vielerlei nachsichtige Gesetze: «Leben und leben lassen», «Jeder für sich» usw., das Verhalten des «Milieus» kann eine Entschuldigung sein, man darf sich anpassen, braucht nicht unbedingt aufzufallen. Im Christlichen dagegen ist jeder Glaubende persönlich vor die Forderung des Evangeliums gestellt, das «Vater und Sohn, Tochter und Mutter, Schwiegertochter und Schwiegermutter entzweit», bis dahin, dass «die eigenen Hausgenossen eines jeden Christen Feinde» sind. Das «Man» hat christlich kein Gewicht, das «Ich» der Christen und ihr «Wir» aber jedes. Das Volk der Christen ist gebildet aus lauter Personen, die Christus verantwortlich sind.
Man sieht das deutlich in den Evangelien. Jesus behandelt Sünde immer persönlich. Und um mit der Sünde der Person fertig zu werden, die ein Hindernis ist für ihr rechtes Verhältnis zu ihm, zieht er ihre persönliche, genau umrissene Sünde unerbittlich ans Licht. Ganz klar ist das in der Szene am Jakobsbrunnen, wo die Frau sein Angebot eines geistlichen Wassers stur und vernagelt ablehnt, weil in ihr eine Sünde verborgen ist, die das Verständnis unmöglich macht. So bricht Jesus die Belehrung ab und heißt sie, ihren Mann holen. «Ich habe keinen Mann.» – «Da hast du die Wahrheit gesagt, fünf hast du gehabt, und der, den du jetzt hast, der ist nicht dein Mann.» Jetzt, da die Eiterbeule aufgestochen, die Sünderin «gebeichtet» worden ist, dringt auch sogleich das Licht in ihre Seele ein, und das Gespräch über das Gebet, den wahren Gott, den Messias, wird möglich. Mit den Jüngern verfährt der Herr nicht anders. Hat einer persönlich etwas Verkehrtes gesagt oder getan, so wird er vor allen übrigen «drangenommen»: Petrus immer wieder, schonungslos, aber auch die Donnersöhne, wenn sie Feuer auf Samaria herabrufen, oder Thomas, wenn er den Zeugen der Auferstehung nicht glauben will, oder Philippus, wenn er noch immer nicht begriffen hat, dass man im Sohn den Vater sieht. Die Pharisäer und Schriftgelehrten werden nicht einfach in Bausch und Bogen verurteilt; es gibt solche, deren Einsicht gelobt wird: «Du bist vom Reiche Gottes nicht weit entfernt.» Umgekehrt haben die Jünger den «Sauerteig der Pharisäer» noch nicht energisch genug aus ihren Herzen ausgefegt. Noch am Kreuz werden nach Lukas die beiden Schächer verschieden behandelt: Der eine bekennt seine Verworfenheit, und ihm wird dafür das Paradies am gleichen Tage verheißen; der andere lästert weiter und bleibt abgewendet. In den sieben Sendschreiben der Geheimen Offenbarung fährt der erhöhte Herr vom Himmel aus fort, seine Kirche auf diese ganz persönliche Art zu «beichten». Jede der sieben Gemeinden hat etwas anderes auf dem Kerbholz. Der Herr anerkennt bei den meisten ihr Gutes, um dann das hervorzuheben, was ihm missfällt. Bei einigen ist es wenig, bei anderen hat es so sehr das Übergewicht, dass sie in Gefahr sind, ob ihrer tödlichen Lauheit verworfen zu werden. (Man sieht am Brief an Laodicea, dass der Herr sich nicht scheut, mit dem Schock einer massiven «unvollkommenen Reue» vor der endgültigen Verwerfung einzusetzen, und erst nach dieser drastischen Kur hinzuzufügen: «Alle, die ich liebe, weise ich zurecht und züchtige sie. Sei also eifrig und bekehre dich.») Auf jeden Fall ist die Weise, wie er während seines irdischen Lebens und als Verherrlichter die christlichen Sünder behandelt, weit entfernt von einem pauschalen nivellierenden Verfahren, als ob alle zusammen Sünder wären (ein bisschen mehr oder weniger spielt keine Rolle) und alle zusammen durch das Blut Christi mit Gott versöhnt: simul peccator et justus. Man kann natürlich aus dieser lutherischen Formel einen guten Sinn ziehen und sie gewissen Formeln des heiligen Paulus annähern. Aber man darf es, will man das Verhalten Jesu zu den Sündern nicht völlig vergessen, nicht so tun, als ginge das Personale einfach unter in einem allgemeinen heilssoziologischen Prozess.
Die Kirche hat von Anfang an das Verhalten Jesu nachzuahmen gesucht, und zwar ausdrücklich auf sein Geheiß, die Geister zu unterscheiden und in seiner Vollmacht die Sünden zu vergeben oder (einstweilen) zu behalten. Es gab damals eine ganze Anzahl von Sünden (nicht nur drei, wie man oft sagt: Mord, Ehebruch und Glaubensverrat), die den Sünder von der Eucharistiefeier der Gemeinde ausschlossen und ein persönliches Bekenntnis (vor dem Bischof) und eine persönliche Buße (vor der Gemeinde) forderten. Ob dieses persönliche Bekenntnis, wie anfänglich, deutlicher vor der Öffentlichkeit oder, später, mehr im Geheimen abgelegt wurde (aber auch dann mit einer Bußauflage, die zumeist sichtbar war), spielt im Augenblick eine geringe Rolle; wichtig ist, dass einer, der in Taten, Worten oder Gedanken gegen den Geist der heiligen Kirche Christi schwer gefehlt hat, persönlich vortreten und verantwortlich bekennen muss. Das ist in keiner Weise «zeitbedingt» und überholbar, es hängt mit der innersten Struktur des menschlichen Wesens zusammen, wie sie vom Sohn des Schöpfers anerkannt und zu ihrer Vollendung gebracht wird.
Wenn irgendwo, muss sich menschlich und christlich das Bedürfnis des schwer schuldigen Menschen, seine Schuld loszuwerden, in einer äußeren Tat inkarnieren, in einer mitmenschlichen Begegnung, die Strafe und vergebende Wiedereinverleibung in die Gemeinschaft – beides gleichzeitig – gewährleistet. Eine bloß innere Versöhnung mit Gott durch Reue und persönliche Bußakte werden einem schweren Delinquenten, der sein moralisches Sensorium bewahrt hat, den Frieden nicht wiedergeben. Und die (sichtbare) Kirche, der der christliche Delinquent als (sichtbares) Mitglied einverleibt ist und gegen deren Grundgesetz er verstoßen hat, ist ja nicht nur eine menschliche Gemeinschaft unter anderen, sondern die von Gott der Welt eingestiftete, die von göttlicher Gesinnung erfüllt und von göttlichem Leben durchtränkt ist. Deshalb verstoßen gegen ihr Grundgesetz auch schwere innere Sünden, die noch nicht zur greifbaren Tat ausgewachsen sind. Der tödlich Hassende ist in seinem Herzen ein wirklicher Mörder. Deshalb verlangt die Wiederversöhnung mit dieser Gemeinschaft einen echten personalen, inkarnierten Akt, der durch Jesus in der Bevollmächtigung der Jünger als ein normaler kirchlicher Akt vorgesehen ist.
Je weniger die persönliche Beichte in der Kirche geübt wird, desto größer wird der Andrang zu den psychologischen Sprechstunden, wo dem Bedürfnis nach Erledigung persönlicher Schuldgefühle und Schuldsituationen auf andere Weise entsprochen wird. Auch hier findet personale Begegnung statt, so etwas wie Aussprache der Schuld, so etwas wie Reintegration in die Gemeinschaft durch so etwas wie «Gericht» und «Strafe» (die Unannehmlichkeiten der Selbsterkenntnis, der Umkehr auf dem Lebensweg) und so etwas wie «Vergebung» (das verständnisvolle Auflösen der seelischen Verknotungen usw.). Nur ist alles auf eine andere Ebene transponiert, eine möglicherweise auch belangvolle, die aber mit derjenigen moralischer Schuld verquickt bleibt, und von dieser loszusprechen hat der Psychologe keine Befugnis.
Gegen gemeinsame Bußandachten einer versammelten Gemeinde mit einer amtlich gespendeten Lossprechung ist so wenig einzuwenden wie gegen das tägliche gemeinsame Confiteor in der heiligen Messe, in der jeder Gläubige mit allen übrigen Versammelten seine Sündigkeit bekennt und sie unter die Barmherzigkeit Gottes stellt. Gut durchgeführte Bußandachten können zudem viele Aspekte der persönlichen Schuldhaftigkeit aufdecken und zu Bewusstsein bringen, die dem auf seine eigene Sündenerforschung Angewiesenen oft entgehen. Die persönlichen Beichten können dadurch tiefer, echter, dauerhafter in der Wirkung werden. Aber diese werden immer der Mittelpunkt des Beichtsakraments bleiben, weil im Evangelium jeder Einzelne in seiner einsamen Verantwortung vor Gott und den Menschen aufgerufen ist und vortreten muss. Schon bei der Bußpredigt des Täufers am Jordan ist es so: die Menge hört sich die Mahnrede an, dann bekennt jeder Einzelne seine Sünden. Es gibt immer den Aspekt der gemeinsamen Schuld; er war im Alten Testament, da das Volk Israel eine Art «Groß-Ich», ein Kollektiv darstellte, an der Tagesordnung (vgl. etwa Nehemias 9). Aber schon in Israel gibt es neben dem gemeinsamen durchaus das persönliche Sündenbekenntnis (David!), viele Psalmen sind offenkundig individuelle Sündenbekenntnisse. Um wieviel mehr wird im Neuen Bund der Akzent auf das Personale gelegt!
Eins freilich muss abschließend nochmals angemerkt werden. Die persönliche Beichte ist ebensowenig wie sonst etwas in der Kirche privat. Ich habe persönlich gesündigt, o ja, und wenn ich mich anklage, so meine ich mich und keinen anderen. Aber kann ich meine Sünde säuberlich von jener der Anderen abgrenzen? Oder bin ich durch mein Verhalten nicht mitschuldig an vielem um mich her, das ganz anders wäre, wenn ich ein anderer wäre? Meine Sünde hat einen sozialen Widerhall, den ich nicht ermessen kann. Und ich muss, ohne sie überblicken zu können, alle Folgen meiner Sünde mit in mein Bekenntnis einschließen. Meine Solidarität mit der Sünde vieler, mit der Sünde aller. In mir beichtet die ganze Kirche – so wie in mir ja auch die ganze Kirche kommuniziert. Das ist keine Verminderung, sondern eine Erhöhung der persönlichen Verantwortlichkeit. Die Weltsünde wird nicht durch die Anzahl der Sünder dividiert, sie ist auf geheimnisvolle und unerklärliche Weise überall, wo Sünde ist, ungeteilt gegenwärtig. Darum ist auch das persönliche Beichtgespräch immer etwas, das die Anderen, Ferne und Nahe, etwas angeht.
Persönliches Bekenntnis ist schlechterdings erfordert, wo ein Sünder sich aus dem Grundgesetz der Kirche als Gemeinschaft der Heiligen herausbegeben hat. Es ist aber ferner überall erwünscht, wo ein Mensch in gesunder (nicht skrupulöser, ichbezogener) Weise ernster machen möchte mit seinem Christsein. Da wird das Sündenbekenntnis sich mit einem Gespräch über die ganze Lebenslage verbinden, damit ein Plan für die Daseinsreform gefasst werden kann. Religiöser Sinn hat auch außerhalb des Christentums (zum Beispiel im Buddhismus) solche persönliche Aussprache spontan erstehen lassen. Wenn das in einer Religion aufkommen konnte, wo die Gottheit unpersönlich gedacht wird, um wieviel mehr wird es dem Christen ziemen, der im Gespräch mit seinem Erlöser auf dem Weg, der Er ist, voranschreiten will.
Hans Urs von Balthasar
Original title
Es gibt keine Kollektivschuld
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Language:
German
Original language:
GermanPublisher:
Saint John PublicationsYear:
2022Type:
Article
Source:
Rheinischer Merkur 10 (9.iii.1973), 31