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Fastenzeit
In der Zeit vor dem Leiden des Herrn, die die Kirche Fastenzeit nennt, ladet sie alle Gläubigen ein, sich auf diese Leidenszeit vorzubereiten. Diese Vorbereitung kann nicht darin bestehen, dass der Christ sich indiskret in die innersten Kammern der Leidensgeheimnisse eindrängt, vielmehr darin, dass er ehrfürchtig in seinem alltäglichen Tun und Gebet versucht zu verstehen, was der Herr für ihn, für die Kirche, für die ganze Welt auf sich genommen hat. Er wird vielleicht jeden Morgen ein Stück aus dem Evangelium, insbesondere aus der Leidensgeschichte lesen (das ist in jeder Lebenslage möglich), und die Wahrheit, die sich ihm gezeigt hat, in sein Tagewerk mitnehmen. Denn das ist das Wichtige: nicht dass er in dieser Zeit sporadisch immer wieder ein paar Minuten von der Atmosphäre der Fastenzeit angeweht wird, die sich in seinem Alltag durchsetzt, nicht als ein frommes Ideal, sondern als eine Realität.
Er liest zum Beispiel, dass der Herr sein Leiden im voraus angekündigt, dass er also die Gläubigen einladet, daran teilzuhaben. Und weil alles, was er getan hat, auch für uns lebendig bleibt, haben wir zu versuchen, auch diese Ankündigung als an uns gerichtet zu verstehen, als eine Aufforderung in all dem, was auf ihn eindringt, den Anzug seines Leidens zu sehen, und darum auch in all dem, was uns selbst zustößt. Aber wir vergessen dabei nicht: Es ist sein Leiden, das naht, auch heute, in dieser Fastenzeit, und wir bereiten uns auf sein Leiden vor, nicht auf das unsere. Wir werden nicht unsere Kleinigkeiten, unsere Lappalien mit seinem Leiden ernstlich vergleichen, als ob diese kleinen Widrigkeiten, diese kleinen Opfer wirklich ein Teil seines Leidens sein könnten. Wir betrachten sein Wort, nicht das unsere, sein Leiden, nicht das unsere, wir sind erfüllt von seinem Schicksal, das für ihn herannaht, nicht von unserem Schicksal, das, wie immer es geartet sein mag, für uns nicht interessant zu sein hat. Wir schauen von diesem immer wieder aktuellen Leiden des Herrn in uns selber, in unsere Zeit, in die heutige Kirche und versuchen mit den Augen des Herrn zu entdecken, was für ihn heute Anlass zum Leiden ist, Anlass, das Kreuz zu besteigen. Und wenn wir in uns, in der Kirche oder in der Welt etwas ändern können, um dem Herrn ein Leiden zu ersparen, dann werden wir es tun. Wir werden das nicht unsere Leistung, unser Leiden, unser Opfer nennen. Wir werden vielmehr wissen, dass der Herr für alle Sünden, für alles, was nicht geht, was nicht erträglich ist, was Gott zum Ärgernis gereicht, überschwenglich genug getan hat. Und wir werden nicht aufs neue persönlich an all diesen Dingen Ärgernis nehmen, als könnten wir sie nicht ertragen, als müssten wir sie ändern. Wir werden vielmehr all dieses Weltärgernis in uns und in der Kirche und sonst auf seine Schau, sein Opfer und sein Leiden zurückführen, es nicht an unserem Maßstab, sondern an dem seinigen messen, der der wahrste, der ernsteste und – der forderndste ist. Aber der Herr soll ersehen, dass wir seine Einladung verstanden haben. Er soll aus unserem tätigen Willen dabei zu sein, zu helfen, zu tragen, was es zu tragen gibt, zu ändern, was er uns zu ändern gibt, verstehen, dass wir seine Jünger sind. Er selber leidet am wenigsten daran, dass er sterben wird. Er leidet an der Sünde der Welt, besonders an der Sünde seiner Freunde, seiner Nächsten, die ihn verleugnen und verraten, und letztlich daran, dass der Vater durch all das so tief beleidigt wird. Er denkt im Leiden nicht an sich, ja er könnte gar nicht erlösend leiden, wenn er an sich dächte. Darum müssen auch wir, je mehr wir im Leiden dabei sein wollen, umso weniger an uns denken.
Er hat sein Leiden geweissagt, damit seine Jünger Gelegenheit haben, sich mit ihm zusammen darauf vorzubereiten. Aber er hat noch eine viel tiefere Einheit geschaffen. Er hat am Vorabend seines Leidens die Eucharistie eingesetzt und ihr die Form seines kommenden Leidens gegeben: Er schenkt den Jüngern den hingegebenen Leib, das vergossene Blut. Indem er jetzt, noch vor seinem Leiden, ihrem Innersten einwohnt, weiht er sie auch in seine innerste Leidensstimmung und Leidensgesinnung ein. Sie sollen, während er leidet und stirbt, nicht unbeteiligt neben ihm stehen. Sie sollen durch die eucharistische Verbundenheit zuinnerst an seinem Zustand teilnehmen. Und wenn er sie nach der ersten Kommunion sogleich an den Ölberg hinausführt, dann kann er ihnen mit mehr Vertrauen als früher sein inneres Leiden aufschließen. Er «beginnt zu trauern und unruhig zu werden», und er ladet sie ein, «mit ihm zu wachen und zu beten». Und auch wenn sie versagen, wenn sie schlafen und nicht verstehen, was vorgeht, sodass er sie rügen muss, sie sind doch «aus Traurigkeit» eingeschlafen, aus einer Traurigkeit, die sie nicht empfunden hätten, wenn er sie nicht in seine Traurigkeit eingeweiht hätte. Und zugleich erleben sie, wie wenig der Mensch von sich aus mitzugehen vermag, wie viel der Herr wird leiden müssen, um sie wirklich aus ihrem Schlaf zu wecken, aus ihrer irdischen Sündenruhe in seine christliche Unruhe zu bringen. Sie, die doch seine Nächsten sind, die alles verlassen haben, um ihm nachzufolgen, sie sind so unfähig, auch nur den ersten Schritt mit ihm ins Leiden zu tun. Und so tief demütigt sie dieser Gedanke, dass sie keine Zeit finden, ihr Versagen mit dem der Übrigen zu vergleichen und etwa zu denken: um wieviel tiefer werden dann die andern schlafen! Nein, sie sehen ihr Versagen und das ist genug, um ihnen einen Sinn für sein Leiden zu geben.
So wird die Fastenzeit zu einer Zeit der Gewissenserforschung. Wir sehen unser dauerndes Versagen, unser Versagen schon beim ersten Schritt, unsere ständige Flucht zurück in unsere Sattheit, in unsere Ruhe, die nicht gestört sein will, in unsere persönlichen Pläne und Liebhabereien. Wir sehen grell beleuchtet den Gegensatz: All dieses Eigene ist noch nicht hineingegeben, nicht integriert in seine Pläne, seinen Ruf, seinen Weg der Erlösung zum Kreuz. Immer wieder lehnen wir es ab, das Seine zu tun und das Unsere stehen zu lassen. Vielleicht viel weniger durch fassbare, abgerundete Sünden als durch eine ganz egoistische, in sich selber ruhende, zu sich selber zurückkehrende Haltung. Vielleicht äußert sich diese in einem allgemeinen Mangel an Liebe, an Interesse und Wohlwollen für die andern, in Reizbarkeit, Besserwissen, Kritik und Unzufriedenheit mit der Welt und der Kirche. Oder sie äußert sich darin, dass wir alle Anstrengung im Sinne des Herrn, mehr zu beten, öfter die Sakramente zu empfangen, als etwas betrachten, was für die «Spezialisten» der Religion, die «Frommen» gut sei, während wir uns sehr wohl mit dem Mindestmaß begnügen können. Aber da hören wir das Wort des Herrn: «Wachet und betet!» Nicht später, sondern jetzt, vor dem Leiden. Eigentlich ist die Fastenzeit so kurz, dass wir uns unverzüglich ans Werk machen müssen, wenn wir sie nicht versäumen wollen. Rasch, sofort sollen wir wachen und beten. Und für uns ist es ja nicht so schwer; die Jünger dachten damals in ihrer Traurigkeit nicht daran, dass bald Auferstehung und Ostern folgen würde. Sie sahen wohl nur eine dunkle Nacht vor ihren Augen. Wir wissen um Ostern. Wir wissen auch um die Frucht des Leidens. Fassen wir nicht tausend Vorsätze für morgen, sondern gehen wir heute in das Eine und Einzige hinein, was nottut, in die wirkliche, liebende Begleitung des Herrn. Lassen wir uns einfangen in sein Gebet: «Nicht wie ich will, Vater, sondern wie du willst.» Auch wenn er zum Kreuze führt: «Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden.»
Adrienne von Speyr
Original title
Fastenzeit
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Language:
German
Original language:
GermanPublisher:
Saint John PublicationsYear:
2022Type:
Article
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