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Psychologie der Heiligen?
Hans Urs von Balthasar
Titre original
Psychologie der Heiligen?
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Fiche technique
Langue :
Allemand
Langue d’origine :
AllemandMaison d’édition :
Saint John PublicationsAnnée :
2024Genre :
Article
Der Christ hat sein Seins- und Sinnzentrum nicht in sich, sondern in Gott, in Christus und in der Kirche. Wenn man wissen will, was die Seele eines Christen ist, dann muß man diese drei Größen befragen: Gott in sich, Gott im Fleisch, Gott in der Menschheit.
1. Gott in sich ist die Sinngebung, der Logos der menschlichen Seele, nicht nur sofern er überhaupt als Schöpfer Ursprung und Ziel des geschaffenen Geistes ist, sondern sofern er als der übernatürliche, dreieinige Gott diese Seele um keines anderen willen erdacht und ins Dasein gesetzt hat, als um ihr durch die Gnade Teilnahme an seiner göttlichen Natur zu schenken. Diese Sinngebung ist die einzig konkrete; sie entscheidet also auch über alle vorläufigen und partikulären Sinngebungen des Seelenlebens. Wer dieses Ziel aus dem Blick verliert, kann vielleicht Sinnfragmente, aber nie einen zusammenhängenden letzten Sinn aus den Beständen und Äußerungen der Seele gewinnen. Das Worumwillen eines menschlichen Verstandes und Verstandesaktes kann, dem objektiven Weltplan Gottes entsprechend, nur erkennen, wer ihn als Substrat des Glaubensaktes versteht. Das Worumwillen eines menschlichen Willens und Willensaktes nur, wer ihn als Substrat des Aktes übernatürlicher, göttlicher Gottes- und Nächstenliebe versteht. Man kann Wesen und Dasein der «Natur» wohl beschreiben, aber nicht letztlich deuten, wenn man sie nicht aus diesem Worumwillen ihres Geschaffenseins deutet: der Gnadenbeziehung zu Gott. In Gott und aus Gott lebend, ist der Christ Mensch.
2. Christus ist, als menschgewordener Gott, die konkrete Idee, die Gott vom Menschen besitzt und nach welcher er das konkrete existierende Wesen Mensch bemißt. Christus erfüllt aber die Idee des Menschen so, daß er als Gottperson eine menschliche Natur hat, deren Akte und Zustände Ausdruck seines göttlichen Ich (und somit auch seiner göttlichen Natur) sind. Seine menschliche Natur ist, wie jede Natur, ein «Mittel» (principium quo) gegenüber der Selbstzwecklichkeit der Person (principium quod). Die menschliche Natur Christi besitzt wohl ihre Strukturen und Gesetze, aber diese bilden für sein göttliches Ich eine Art indifferente, zu allem brauchbare Klaviatur, auf der sein göttliches Ich spielt und durch das er sich und seine göttlichen Worte und Inhalte ausdrückt. Obwohl diese Natur eine bestimmte und endliche ist, kann man doch nicht sagen, daß sie von sich aus dem göttlichen Ausdruckswillen Schranken auferlegt. Man kann auch nicht sagen, daß sie im Sinn anderer individueller Menschennaturen beschränkt ist, die einander wie Glieder eines Leibes zu ergänzen haben. Denn Christus ist nicht Glied, sondern Haupt der Menschennatur. Man kann also nicht sagen, daß er mehr natürliche Begabung zu diesem Handwerk als zu jenem gehabt habe, mehr Neigung zu diesem als zu jenem Wissen oder Tun, daß er in eines der Temperamente hätte eingereiht werden können, daß er mehr zum Zorn als zur Sanftmut, mehr zur Entschiedenheit als zur Versöhnlichkeit neigte usw. Seine Natur, obwohl keine diffus-allgemeine, sondern eine völlig bestimmte, war ganz Bereitschaft und Werkzeug zu seiner göttlichen Person hin. Aus seiner Natur konnte der Inhalt der Offenbarung sowenig im voraus abgelesen werden, als man aus der Tastatur einer Orgel eine Bachfuge, aus der Palette des Malers das zu malende Bild deduzieren kann. Manche Taste, manche Farbe ist da, die vielleicht gar nicht gebraucht wird; ein Ton wird vielleicht nur einmal angeschlagen, eine Farbtube dagegen wird ganz aufgebraucht. Das Instrument verrät darüber nichts. Daraus wird klar, daß es eine Psychologie Christi im Grunde nicht gibt. Es könnte eine solche nur geben, wenn es eine Psychologie Gottes gäbe (und Christus ist ja Gott), was aber unsinnig ist. Psychologie fordert, um Wissenschaft sein zu können, einen bestimmten, begrenzten und aus sich selbst einsichtig zu machenden Gegenstand. Die Psyche Christi ist aber aus sich selbst, das heißt in Absehung von seiner göttlichen Person, in keiner Weise einsichtig zu machen. Alle seine Worte, Taten, Zustände haben nur den einen Sinn: Gott zu offenbaren. Sie sind, wie Augustin unablässig wiederholt, nur verschiedene Formen von menschlichen Worten, die alle das eine göttliche Wort und seinen göttlichen Sinn ausdrücken. Sieht man einen Augenblick von diesem ab, so bleibt nicht etwa eine «menschliche Weisheit» übrig, sondern das vollkommen Absurde. Ist Christus nicht Gott, so ist er pathologisch und eine Beute für Psychiater. – Der Christ lebt von der Gnade Christi. «Ich lebe zwar, doch nicht mehr ich, Christus lebt in mir». Er ist weit davon entfernt, als Glaubender mit Christus identisch zu werden; er behält die Beschränktheit seiner Psyche und die Unverwechselbarkeit seines geschaffenen Ich. Aber beides wird in seiner Eingliederung in Christus relativiert zu einem Ausdrucksfeld des Lebens Christi in ihm, das fortan die einzige Sinngebung seines Lebens und das Gesetz seines Denkens und Handelns ist.
3. Kirche heißt die konkrete Form dieser Eingliederung: Gliedschaft im mystischen Leibe Christi. Und wie das Glied seine ganze Struktur von seiner Funktion im Leibe her bekommt, so bekommt der Christ seine Sendung – und diese ist die konkrete Form der Gnade für ihn – im Hinblick auf den Organismus der Heilsgemeinschaft. Die Sendung war Inhalt und Mittelpunkt des Lebens Christi auf Erden; von ihr redet er, sie erfüllt er, um ihretwillen stirbt er. Die Sendung ist Inhalt und Mittelpunkt des Gliedes Christi in der Kirche: will ein Christ wissen, was er ist, wozu er da ist, was er zu tun hat, so hat er nichts anderes zu befragen als seine Sendung, jenes «Charisma», von dem Paulus immer wieder spricht und das das Heilswerk des Heiligen Geistes in ihm ist: das Allerpersönlichste in seiner Person und das Allerunpersönlichste und Funktionellste in seiner Werkzeuglichkeit für die Kirche. Auf diese Sendung hin ist in der Seele des Christen alles relativiert. Sie ist nichts Abstraktes, sondern das Allerkonkreteste, was es gibt: das Leben Christi durch den Heiligen Geist in seiner Seele, wodurch sie ganz in den Dienst der Verherrlichung des Vaters gestellt ist. Der Christ ist Diener des Evangeliums, Zeuge der Wahrheit Christi in allem, was er auf Erden tun mag. Was er sonst noch sein könnte, ist irrelevant; es verlohnt sich nicht einmal, danach zu fragen.
So gilt auch für ihn, was für Christus selbst galt: die Relativierung seines seelischen Bestandes auf den Zweck der Sendung hin verunmöglicht jede irgendwie abschließende Psychologie, und zwar aus drei Gründen:
1. Weil in seinem seelischen Bestand (und das um so mehr, je mehr er Ernst macht mit seinem Christentum, das Seinshafte auch zum Bewußtseinshaften werden läßt) nichts aus dem Zusammenhang Gottes, der Gnade, der Sendung herausgelöst werden kann, ohne vollkommen entstellt und seines Sinnes beraubt zu werden. Was ich als Christ tue, das versteht nur, wer meinen Glauben kennt, und zwar glaubend kennt. Es kann aber auch sein, daß ich es selbst nicht verstehe, sondern daß ich es nur aus dem Glaubensgehorsam heraus tue und die Übersicht und die sehende Verantwortung dafür Gott überlassen muß. Wenn aber christliche Maßstäbe nicht ausreichen, um eine Glaubenstat in ihrem letzten Sinn und ihren Folgerungen zu verstehen, dann werden a fortiori die Maßstäbe natürlicher Psychologie hier versagen. Man denke an gewisse abstruse Taten, die den Propheten des Alten Bundes aufgetragen wurden und deren Bedeutung sie oft kaum, oft gar nicht erkannten. Sie sind – vorbildlich für alle Glaubenden – gehorsame Diener des Wortes und drücken in ihrem Gehorsam eine Wahrheit symbolisch aus, lassen sie Mensch werden und für die Welt gültig sein, ohne dabei den Maßstab für ihr Tun und den Sinn ihres Tuns selber in die Hand bekommen zu wollen.
2. Weil der Plan Gottes mit einem Leben sich nie auch nur im geringsten aus dem seelischen Bestand herauslesen läßt. Mögen die Ungläubigen der Meinung sein, aus den «Elementen dieser Welt» (Gal 4,3) mit mehr oder weniger Notwendigkeit den Lauf ihres Lebens bestimmen zu können: aus Vererbung, Physiologie und Astrologie usw., der Christ weiß, daß alle diese «Elemente» auch nichts weiter sind als eine Klaviatur, auf der man so und auch ganz anders spielen kann. Die Sendung von oben, die jeder in irgendeiner Weise besitzt, obwohl sie bei manchen totaler, fordernder, universaler ist als bei anderen, verfährt mit dem psychischen Bestand sehr herrschaftlich. Keinesfalls so, daß sie sich der Struktur dieses Bestandes einfach unterordnen würde, so daß man aus einer Art totalem «Test» heraus (falls so etwas überhaupt möglich wäre) auch die übernatürliche Sendung mitablesen könnte. Natürliche Eignung zum Verzicht ist sehr oft, übernatürlich gesehen, gerade Nicht-eignung: der Impotente ist für den Zölibat, was dessen christlichen Sinn betrifft, sicher weniger geeignet als der Normale; wie der schmerzunempfindliche Jogi für das christliche Kreuz am allerungeeignetsten ist. Und wer hat schon «Eignung» oder natürliche Neigung zum Kreuz? Und ist vielleicht Petrus auf Grund natürlicher Eignung zum Felsen der Kirche auserwählt worden? Daß der seelische Bestand in der Sendung benützt wird, ist selbstverständlich. Aber wie er benützt wird, das entgeht vollkommen jeder natürlichen Psychologie.
3. Schließlich besagt dieser Querstand der Eignung und Neigung zur Sendung, daß diese das Natürliche nicht bloß frei auszuwählen, sondern ebensosehr auch schöpferisch zu ergänzen imstande ist. Damit fällt der schon im natürlichen Bereich sehr anzuzweifelnde Satz von der Unveränderlichkeit des Charakters oder Temperamentes im Christlichen vollends dahin. «Wasserbächen gleicht das Herz des Königs in der Hand des Herrn; er leitet es, wohin er will» (Spr 21,1). Er kann ganze Teile wegschneiden, durch das Feuer der Absolution und der Gnade, ganze Teile hinzufügen, indem er von Natur aus Schwache stark macht, von Natur aus Ängstliche wie Moses vor ein Volk hinstellt, von Natur aus Unbeständige wie Petrus zum Felsen härtet. Und man kann nicht sagen, daß er ihnen damit ihr persönliches Wesen nimmt; denn nichts ist persönlicher als die Sendung. Ja, die christliche Person hört gerade in dem Augenblick auf, ein unbestimmtes, ambivalentes Wesen zu sein, in dem sie ihre Sendung klar und entschieden ergreift und sich ihrem Gesetz unterstellt.
Man braucht bloß das Gesagte in seiner reinsten, radikalsten Form zu nehmen, um den Fall des Heiligen vor sich zu haben.
Der Heilige ist jener Christ, der einerseits eine meist besonders ausgeprägte und fordernde übernatürliche Sendung erhalten, anderseits sich mit allen seinen Kräften des Leibes, der Seele und des Glaubens seiner Sendung zur Verfügung gestellt hat. Durch das Wagnis dieses vollkommenen Dienstes wird der Heilige zur stärksten christlichen Persönlichkeit. Er entgeht schon dadurch am meisten einer von unten, von der «Natur» her generalisierenden Psychologie. Heilige kann man nur aus ihrer Welt heraus verstehen, zumindest aus der Welt des ernsthaft bejahten Glaubens, der ja die wurzelhafte Heiligkeit ist. Jeder Versuch, sie außerhalb des Glaubens zu verstehen, führt zu nicht weniger starken Verzeichnungen als die Psychologien Christi: der Franziskus Sabatiers, der Ignatius Fülöp-Millers ist nicht viel sachgetreuer als der Christus Renans. Aber damit nicht genug: die Heiligen, die beurteilt werden sollen, sind für die Glaubenden selber Maßstab und Norm der Beurteilung, ja des Gerichtes. Sie sind Mitrichter mit Christus, weil, wie Thomas von Aquin sagt, «in ihnen die Dekrete der göttlichen Gerechtigkeit enthalten sind, nach denen die Menschen gerichtet werden, so wie ein Buch das Gesetz enthält» (S. Th. Suppl. q. 89, 1). Durch Gnade teilnehmend an der Idee der Menschen in Christus, werden sie für uns wie zu sekundären Ideen, die mit den Maßstäben einer natürlichen weltlichen Wissenschaft zu messen doppelt unangebracht ist. Für sie gilt der Satz Pauli im höchsten Maße: «Der geistige Mensch beurteilt alles, wird aber selbst von keinem beurteilt» (1 Kor 2,15).
Menschliche Mittelmäßigkeit ist immer bereit, die Taten der Heiligen als «Übertreibungen» hinzustellen. Sei es im ganzen, indem man den «Typus» des Heiligen psychologisch gegenüber anderen Menschentypen abzugrenzen sucht und ihm gleichsam eine «Extremlage» zuspricht (was nur im Unglauben möglich ist), oder doch indem man den Heiligen einzelne Taten oder Haltungen als «übertrieben» ankreidet, was sehr oft innerhalb des Glaubens zu geschehen pflegt. Aber vieles von dem, was für die Mittelmäßigkeit übertrieben, ja verschroben und unverständlich erscheint, wurde von ihnen in einer bestimmten Phase ihrer Sendung getan, die es so und nicht anders forderte und die vielleicht Vorbereitung und unerläßliche Bedingung zu Späterem war. Und vieles wäre nur voll verständlich für den, der Ähnliches wie der Heilige erlebt, geschaut, gelitten hätte: eine stete Beschäftigung mit dem Kreuz bei dem, dessen Seele vom Geist ausdrücklich auf diese Geheimnisse hingelenkt wird, ein strenges Schweigen, Fasten, Wachen, Sich-kasteien, bei dem, welchem der Heilige Geist an den entsprechenden Geheimnissen des Lebens Jesu: seinen Nachtwachen, seinem vierzigtägigen Fasten, seiner Geißelung usw. besonderen Anteil geben will. Wenn ein Franz von Assisi sich als den größten der Sünder bezeichnet, dann hat er vielleicht nicht nur darum recht (und man sollte sich sehr hüten, ihm dieses Recht wohlwollend zu bestreiten), weil er sich zu jeder Sünde fähig fühlt und die Sünde wie latent und sprungbereit in sich weiß, sondern vielleicht noch mehr darum, weil er unter das Kreuz gestellt wurde, jenen in sich aufnahm, der alle Sünden der Welt in sich aufnehmen und vor dem Vater im Himmel nicht mehr zwischen sich und den Sündern unterscheiden wollte. Diese Unterscheidung ist ja gerade das, was im Geheimnis der Stellvertretung an einem bestimmten Punkt unaktuell wird. Und warum sollte der Geist nicht einem Heiligen gerade dieses Geheimnis zeigen und ihn daran teilnehmen lassen?
Für die Mittelmäßigkeit bleiben die Heiligen die Ausnahme, für Gott dagegen sind sie der normale Fall, weil sie sich am meisten der Norm Christus annähern und darum für alle Menschen zur Norm werden. Abnorm dagegen sind für Gott alle Sünder mitsamt ihren Theorien über das «normale und abnormale Seelenleben», wenn ihre Normen sich nicht mit den Normen des Evangeliums decken. Und diese abnormen Sünder werden mitsamt ihren Theorien durch das Feuer des Gerichtes der Heiligen zu gehen haben, und ob sie «mit Gold, Silber und Edelsteinen oder vielmehr mit Holz, Heu und Stroh gebaut haben, das wird sich bei jedem Werke herausstellen; der Tag wird es kundtun, weil er sich im Feuer offenbart» (1 Kor 3,12-13). Interessant ist für Gott nur die Norm und alles andere nur, soweit es sich ihr annähert oder zur Annäherung daran gebracht werden kann. Was von ihr abfällt oder von ihr wegzieht, ist das wesentlich Uninteressante, mit dem zu beschäftigen sich nicht einmal lohnt. Man kann und darf sich dabei als Christ nur soweit und solange aufhalten, als man es im göttlichen Auftrag tut, das heißt im Dienste des Apostolats und des Zeugnisgebens, oder des Leidens und der Sühne.
Nichts ist mannigfaltiger als die Schicksale, die Haltungen, die Sendungen der Heiligen. Es gibt keinen irgendwie festlegbaren Heiligentypus. Die einzige Einheit, von der her diese Sendungen zu verstehen und in der sie zu synthetisieren sind, ist das Leben des menschgewordenen Gottes, eine Einheit also, die unserem Verstehen nicht unzugänglich, ihm aber auch nie wie ein endlicher Begriff, der von Menschen gebildet wurde, übersehbar und definierbar wird. Jedes Heiligenleben ist Teilnahme an einem ganz bestimmten Aspekt des Lebens Jesu; aber nie wird man durch die Sendungen der Heiligen ein erschöpfendes Bild des Reichtums Christi gewinnen können, gar etwa eine erschöpfende Psychologie des Erlösers. Da die Totalität Christi eine persönliche und göttliche Totalität ist, wenn auch in menschlicher Natur inkarniert, das wahre Universale Concretum der Welt, ist es unmöglich, von einem universale abstractum her irgendwelche Deduktionen über eine Sendung als ganze, oder über irgendeine notwendig zu befolgende Gesetzlichkeit des Ablaufs ihrer Phasen anzustellen. Was möglich ist, ist eine Art übernatürliche Phänomenologie der Heiligen und der Heiligkeit, und dies aus dem Glauben. Halten wir zum Schluß drei Punkte daraus fest:
1. Alle Heiligkeit nimmt teil an der Absolutheit des Evangeliums und des Wortes Gottes, das auch in Menschengestalt ein verzehrendes Feuer ist. Wer wie der Heilige zentral vom Evangelium lebt, wer sich im innersten Wesen und in allen Verästelungen seiner Seele vom Glauben treffen läßt, in dieses Zentralfeuer hineingeworfen wird, der kann nichts anders als brennen und brennend die Welt entzünden. Die Absolutheit des Evangeliums ist die Form, die in jeder materiell sich unterscheidenden Heiligensendung wiederkehrt: als Absolutheit der Geduld oder der Wahrheit oder des Helfens oder der Kontemplation oder der Buße. Diese Absolutheit vernichtet so wenig das echt Menschliche des Heiligen als das Feuer Gottes die Natur Christi verzehrt. Aber der Heilige weiß, daß das Absolute in ihm nicht er selbst, sondern die göttliche Sendung ist, und diese für ihn evidente Unterscheidung gräbt in ihm das Bett der Demut immer tiefer. Die Demut wiederum ermöglicht in ihm eine Absolutheit des Zeugnisgebens, des Forderns, ja der Härte, mit der er das Licht, das er tragen muß, jeder Finsternis entgegenstellt. Er besitzt eine Art Unangreifbarkeit, die nach außen alttestamentlich anmuten kann, die ihn zum Gericht über die Sünde um ihn herum macht, die aber in ihrem Kern ganz neutestamentlich ist: die Unangreifbarkeit Christi, sein Nichtpaktieren mit der Welt, seine Schonungslosigkeit mit dem Lauen und dem Pharisäer. Alle Sendungsreden und Trostreden an die Jünger zeigen diese Weitergabe der charismatischen Absolutheit, die nicht völlig identisch ist mit der amtlichen Absolutheit der Kirche.1 Das Gnadengeschenk nimmt dem Heiligen jedes die Sendung hindernde Zögern weg, das im Blick auf die eigene Sünde und Unwürdigkeit nur zu nahe läge. Er ist ein Geworfener. Er muß Zeugnis geben, leuchten, Stadt auf dem Berg sein; er ist nicht mehr frei, nein zu sagen zum Auftrag. Und im Lichte der Heiligen wird sichtbar, daß auch Christus von diesem Absolutheitsfeuer weniger darum brennt, weil er selber Gott ist, als weil er vom Eifer für die väterliche Herrlichkeit und die väterliche Sendung verzehrt wird. Das Absolute an ihm ist das Wort – das er freilich als Person ist – das sich aber selber ganz als das Wort des Vaters empfindet. So fallen in ihm Sendungsbewußtsein und Sendungsdemut zusammen.
2. Da nach einem Wort Augustins die große Menge in der Menschheit und auch in der Kirche immer mittelmäßig bleiben wird, und der Einzelne immer wieder in einen Gegensatz zu dieser Menge wird treten müssen, die da glaubt und doch nicht glaubt, aufnimmt und doch nicht aufnimmt, so ist die Existenz des Heiligen immer neu in den Kampf von Licht und Finsternis gestellt, an jene schmale, messerscharfe Kante, die bei Johannes die Begegnung beider bildet, und die den Namen Gericht trägt. Er ist wesensmäßig der, der den schmalen Weg geht, und je breiter der Weg ist, den die Beruhigten, Mittelmäßigen, Installierten und religiös Rückversicherten auch in der Kirche gehen, um so schmaler muß der Weg sein, den der Heilige geht, so schmal, daß er zu einem Seil über dem Abgrund werden kann; so schmal, daß für die Zuschauer sein Weg gar kein Weg, vielleicht sogar ein Irrweg zu sein scheint. Nachträglich, wenn er den Gipfel erreicht hat, erntet er einen Ruhm, den er nicht angestrebt hat und der ihm nur um der andern willen annehmbar scheint. Denn wenn sich nach seinen Vorstellungen auch sehr viel Mißverständnis in diesen Ruhm mischt, er kann für die Menge der Brüder doch ein Zeichen für die Kraft Gottes sein, die stärker ist als jede Ohnmacht und jeder Widerstand des Menschen, der er war. Von der faktischen Mitte aus erscheint der Heilige als ein «Randgänger» und «Kantengänger», aber sein «Rand» ist in Wahrheit die Mitte, und seine Kante hat die Breite der Ewigkeit. Und nicht aus sportlichem Ehrgeiz geht er seinen steilen Kletterweg, sondern aus Gehorsam. Zu diesem Weg gehört notwendig, «mit aller Kraft zu ersehnen, was immer Christus unser Herr geliebt und umfangen hat: … Schmach, falsches Zeugnis und Erleiden von Unrecht, als Narr gehalten und angesehen zu werden, ohne selber dazu einen Anlaß zu geben» (Ignatius). Die kleine Therese findet für das Schicksal des Heiligen das anmutige Bild: er soll das Jesuskind als ein tanzender Kreisel erfreuen, der auf seiner Spitze nur stehen kann, wenn er kreist und nur kreisen kann, wenn er immer neu von einer Geißel getroffen wird: «Nun gut, laß dir diesen Dienst von deinen Mitschwestern erweisen und sei jenen besonders dankbar, die am meisten dazu beitragen werden, deinen Gang zu beschleunigen».2 Und wie Paulus von den Christen an die Juden, von den Juden an die Heiden überliefert wurde, und darin seinen Herrn nachahmen durfte, so wird der Heilige aller Zeiten nicht verwundert sein, wenn die Auslieferung notwendig im innersten Kreise beginnt.
3. Der Heilige wird zuletzt auch darin in besonderer Weise in die Situation seines Meisters gestellt, als er im einen weltgeschichtlichen und zugleich eschatologischen Ereignis steht: im Übergang vom Alten zum Neuen Bund, der, obwohl ein für allemal angebrochen, doch bis zum Ende der Welt im Anbruch bleibt. Der Inhalt seiner Sendung wird somit, wie immer er gestaltet sein mag, in der Erfüllung und zugleich Überwindung des Je-Alten durch das Je-Neue bestehen. Er wird das Gesetz sowohl hinter sich zurücklassen, um in die Liebe zu schreiten als gleichzeitig seinen Schritt ins Neue durch das vollkommene Halten der alten Gebote beweisen, wie er durch das vollkommene Halten des neuen Gebotes das alte wie selbstverständlich mit-hält. Er wird daher ebenso notwendig den Weg von den Geboten des Alten Bundes zu den Räten des Neuen Bundes gehen, die nach dem Wort des Herrn Türe zur Vollkommenheit sind: «Wenn du vollkommen sein willst…» (Mt 19,21), und obwohl es viele Möglichkeiten gibt, die Räte des Herrn zu befolgen, so werden sie doch in irgendeiner Form in keinem Heiligenschicksal fehlen. Denn sie sind der kürzeste Weg zur Liebe, und mehr als das: der vollkommene Ausdruck der Liebe, die alles Eigene weggegeben hat, um nur noch für Gott und den Nächsten zu leben. Liebe ist zuletzt der Sinn und Inhalt jedes Heiligenlebens; Liebe, wie die Welt sie nicht kennt und die menschliche Seele sie zu leisten nicht fähig ist, es sei denn, der Gott, der die Liebe ist, lebe in ihr und liebe durch sie.
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